Die kleine jüdische Minderheit begrüßte die Weimarer Republik als Chance wegen der per Verfassung festgelegten vollen Gleichberechtigung. Sie lebte überwiegend akkulturiert und war liberal eingestellt. Politisch-kulturell war sie vielfältig engagiert, vom bürgerlichen Centralverein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) bis hin zu zionistischen Gruppen. So unterschiedlich sich die Jüdinnen und Juden selbst verorteten: Sie waren gleichermaßen mit dem toxischen, rassistischen Antisemitismus der völkischen Feinde der Republik konfrontiert. Das Schlagwort und der Verschwörungsmythos der „Judenrepublik“ entfaltete eine starke Wirkungsmacht auf allen Ebenen der Gesellschaft: Dies führte zu politischen Morden (Attentat auf Reichsaußenminister Walther Rathenau 1922) und körperlichen Angriffen auf Juden (Scheunenviertelpogrom 1923, Kurfürstendammkrawall 1931). Den radikalen Antisemiten gelang es darüber hinaus, im öffentlichen Diskurs bei Krisen und Skandalen antisemitische Deutungen zu platzieren und die Grenzen das Sagbaren mit einer Mischung aus codierter und offen-antisemitischer Sprache zu verschieben. Dieser schleichende Formenwandel in der politischen Kultur wurde von den nichtjüdischen republikanischen Kräften und Arbeiterparteien kaum wahr- und ernstgenommen. Der C.V. blieb bei seiner selbst gestellten Aufgabe der Abwehr des Antisemitismus weitgehend auf sich gestellt.
Susanne Wein
wurde 2012 an der Freien Universität Berlin promoviert. Sie war bis Februar 2023 wiss. Mitarbeiterin im Stadtarchiv Heilbronn und erstellte zuletzt ein Gutachten zu Straßennamen und NS-Belastung. Sie arbeitet als freie Historikerin zu den Themenfeldern Vorgeschichte und Aufarbeitung des Nationalsozialismus, Parlaments- und Demokratieforschung sowie Antisemitismus und deutsch-jüdische Geschichte.
Publikationen (u.a.):
Susanne Wein / Martin Ulmer: Antisemitismus in der Weimarer Republik, in: Nadine Rossol / Benjamin Ziemann (Hg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Repu -
blik, Darmstadt 2021, S. 465–486; Antisemitismus und Antifeminismus. Parlamentarierinnen jüdischer Herkunft in der Weimarer Republik, in: Frauen & Geschichte e.V. (Hg.): Antisemitismus – Antifeminismus. Ausgrenzungsstrategien im 19. und 20. Jahrhundert, Roßdorf 2019, S. 211–233; Antisemitismus im Reichstag. Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik. (Zivilisationen & Geschichte, Bd. 30), Frankfurt am Main, u.a. 2014