Geschichte und Geschichten

Das Rathaus und seine Zeit

Das Rathaus ist als Baudenkmal und steinernes Zeugnis der wilhelminischen Ära anerkannt. 

Rathauseinweihung 1913

Wahrzeichen der Stadt

Was für ein imposanter Bau. Mehr als 97 Meter ragt die Kuppel des hannoverschen Rathauses in den Himmel über Niedersachsens Landeshauptstadt. Das 1913 feierlich eingeweihte Rathaus in Hannover ist vor allem ihretwegen ein Unikum unter den zahlreichen Kommunalbauten des wilhelminischen Kaiserreiches. Für die Hannoveraner ist es neben der Marktkirche zum Wahrzeichen ihrer Stadt schlechthin geworden. Als das ARD-Fernsehen noch allabendlich  eine Wetterkarte mit Stadtsymbolen ausstrahlte, repräsentierte der Kuppelbau wie selbstverständlich die Halbmillionenstadt an der Leine.

Viele Besucher, die zum ersten Mal nach Hannover kommen, halten das Rathaus trotzdem zunächst für ein – oder das – Schloss, Was einerseits natürlich ein Irrtum ist, aber doch ein gutes Gespür für die Intentionen seiner Erbauer verrät. Sie verwendeten architektonische Grundmuster, die frühere Schloss- und Parlamentsbauten zum Vorbild hatten. Sie setzten damit in sich widersprüchliche Zeichen, Die Verbindung  von feudalistischem Traditionalismus und bürgerlich-demokratischer Emanzipation entsprach in vieler Hinsicht dem auseinander strebenden Zeitgeist einer Epoche, die in seltsamem Nebeneinander Elemente von Beharrung und Fortschritt, Vergangenheitsverklärung und Moderne in sich barg. Auch das macht die Baugeschichte dieses in so vieler Hinsicht einmaligen Rathausbaus deutlich.

Tatsächlich hat sich ein selbstbewusstes Stadtbürgertum mit dem Neuen Rathaus einen Kommunalpalast errichtet, der nicht ganz zufällig den Turm der spätmittelalterlichen Marktkirche um einiges überragt und die Schlossbauten der 1866 nach der Annexion des Königreichs Hannover durch Preußen vertriebenen Welfen  in den Schatten stellte. Jene residierten einst im nahe gelegenen klassizistischen Leineschloss (heute Sitz des niedersächsischen Landtags) und in der berühmten barocken Sommerresidenz Herrenhausen, deren Schlossbau im zweiten Weltkrieg zerstört worden ist.

Die 1837 nach dem Ende der Personalunion mit England aus London nach Hannover zurückgekehrten Welfen waren gerade dabei, sich auf halbem Wege zwischen der Stadt und Herrenhausen ein neues Schloss zu bauen, als es 1866 vorbei war mit der Landesherrlichkeit. Das im Rohbau fertig gestellte Gebäude wurde schließlich für die Polytechnische Hochschule umgebaut, der Vorläuferin der heutigen Universität.

Das hannoversche Bürgertum also baute sich ein Schloss aus eigenem Recht. Wiedergutmachung für  den Verlust von Residenz- und Hauptstadtfunktion, aber zugleich unübersehbares Monument für die Rolle des erstarkten "dritten Standes" in einem, geschichtlich betrachtet, noch sehr jungen Staatsgebilde.

So hat das hannoversche Rathaus seinen festen Platz in der Reihe der großen Repräsentationsbauten des neuen deutschen Nationalstaats, der erst mit der Reichsgründung 1871 im Spiegelsaal zu Versailles unter preußischer Ägide das Licht der Welt erblickt hatte. Dieser Emporkömmling unter  den etablierten europäischen Mächten England, Russland und dem durch  die Niederlage von 1870/71 gedemütigten Frankreich suchte nun in der Mitte des Kontinents seinen "Platz an der Sonne" (Reichskanzler Fürst Bernhard von Bülow 1897 im Reichstag zur Rechtfertigung deutscher Kolonialansprüche).

Kraftstrotzend hatte sich Deutschland nach Überwindung seiner kleinstaatlichen Zersplitterung in der Geschichte zurück gemeldet. Hannover profitierte unerwartet stark  von dieser neuen Situation und entwickelte sich zu einer der am stärksten expandierenden Städte des in dieser Form jungen deutschen Reiches. 1873 erst hatte Hannover die 100000-Einwohner-Marke und damit die Schwelle zur Großstadt überschritten. Bei der Volkszählung 1892 wurden nach der Eingemeindung mehrerer Nachbardörfer amtlich schon 185200 Einwohner registriert. Und in rasantem Tempo stieg ihre Zahl weiter; Von knapp 219535  im Jahr 1895, als der Beschluss zum Bau des Neuen Rathauses fiel, über 235649 im Jahr 1900 auf schließlich rund 318000 im Jahr 1913, als der Kuppelbau eingeweiht wurde. Das unmittelbar angrenzende Linden, das 1880 endliche eigenes Stadtrecht erhielt, beherbergte im gleichen Jahr weitere 86 000 Menschen.

Der enorme Bevölkerungszuwachs und der ökonomische Aufschwung hatten den Rathausneubau nötig gemacht und ihm die wirtschaftliche Basis gegeben. Dies waren die eigentlichen Kräfte, die in den so genannten Gründerjahren und danach trotz zyklisch auftretender konjunktureller Krisen dem Reich im Ganzen und Hannover im Besonderen einen bis dahin nicht gekannten Modernisierungsschub bescherten.

Man kann sich das Ausmaß und das Tempo der Industrialisierung und Technisierung jener Zeit kaum dramatisch genug vorstellen. Im Reich entfaltete sich eine Dynamik, wie sie ähnlich noch einmal in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik ereignen sollte.

In Hannover und Linden wurden  nach dem Ende des Deutsch-Französischen Kriegs Unternehmen gegründet, was das Zeug hielt: Continental Gummiwerke und Körting Maschinenbau, Übernahme der Hornemann-Farbenfabrik durch Günther Wagner  ­– Geburtsstunde von Pelikan (1871), Wohlenberg Werkzeugmaschinen (1872), Rüter Stahlbau (1878), Appel Feinkost (1879), Eisenwerk Wülfel (1882), Westinghouse Bremsen (1884), Harry Brotfabrik (1887,), Kaiser Brauerei und Constantin Zigaretten  (1888),  Bahlsen Keksfabrik und Sichel-Werke  (1889),  Ahrberg Wurstfabrik, Teutonia Portland Zement und Berstorff Maschinenfabrik  (1897), Deutsche Grammophon Gesellschaft und Hannoversche Waggonfabrik HAWA (1898) Hackethal Draht- und Kabelwerke (1900 ).

Der Anteil  der gewerblichen Industriearbeiter stieg in Hannover und Linden einschließlich der Vororte von 22 Prozent der Gesamtbevölkerung 1861 auf 33 Prozent 1875. Elektrizität, Telefon, die Erfindung des Autos Bus und Straßenbahn revolutionierten das Alltagsleben der weit über sich und ihre alten Grenzen hinaus wachsenden Stadt. Die Zahl der berufstätigen Frauen  nahm kräftig zu und erreichte 1907 eine Rekordmarke von 26,5 Prozent. Als neue Klasse etablierte sich eine Mittelschicht aus Angestellten. Die Bedeutung von Handel und Militär ging zurück. Damit vollzogen sich gewaltige gesellschaftliche Umbrüche. Deren ganze Tragweite hatten die  kommunalpolitisch handelnden Eliten zur Zeit des Rathausbaus noch gar nicht erfasst. In  Kunst und Architektur jedoch machte sich der Wandel bereits bemerkbar. Jugendstil, Neue Sachlichkeit und Neo-Klassizismus erschienen am Horizont, als das Rathaus noch im Bau war. Was seinen Historismus schon damals fortschrittlichen Zeitgenossen als verspätet und gestrig erscheinen ließ.

Der seit 1888 regierende forsche Kaiser Wilhelm II. besuchte wiederholt Hannover. Meist waren Kaisermanöver angesagt, 1890 verlieh Seine Majestät der Stadt das Privileg, sich „Königliche Haupt- und Residenzstadt“ zu nennen, eine Versöhnungsgeste gegenüber der in Hannover immer noch starken Welfenpartei und ihrer Anhängerschaft. 1913 reiste Wilhelm II. zum letzen Mal an die Leine. Zur feierlichen Einweihung des Rathauses am 20. Juni empfing ihn ein stolzer Stadtdirektor Heinrich Tramm angeblich vor dem Eingang mit den (historisch nicht exakt belegten) Worten: "Alles bar bezahlt, Majestät."

Die versammelten Honoratioren ahnten nicht, dass dieses Fest nicht nur Höhepunkt, sondern praktisch den Abschluss einer Epoche markieren sollte. Tramm,, von den Bürgern auch scherzhaft "König von Hannover" genannt, hatte den Rathausbau gegen vielerlei Widerstände durchgesetzt., stand wie Wilhelm auf dem Zenit seiner Macht. Ein gutes Jahr später, am 2. August 1914, kündigte sich mit Donnergetöse und Hurrah-Patriotismus der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und damit der Anfang vom Ende an. Die Niederlage 1918 führte zur Abdankung des Kaisers, und zur Gründung der von Krisen geschüttelten Weimarer Republik. Der großbürgerliche Monumentalbau wollte so gar nicht in diese veränderte soziale und politische Landschaft passen.

Die Wertschätzung für den Kuppelbau war seitdem erheblichen Schwankungen unterworfen. Mit dem totalen politischen, geistigen und moralischen Zusammenbruch nach dem Ende von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg sank sie bei den nun ganz der Moderne verschriebenen Architekten und Kunsthistorikern fast auf den Nullpunkt. Doch längst hat auch der bauliche Historismus eine neue Bewertung erfahren. Das Rathaus ist als Baudenkmal und steinernes Zeugnis der wilhelminischen Ära anerkannt. Die Hannoveraner fanden es sowieso immer beeindruckend schön. So gesehen, haben sich die Urteile von Laien und Fachwelt unter der Rathauskuppel wieder glücklich zusammen gefunden.


Texte mit freundlicher Genehmigung von Michael Krische.