Ein internationales Forschungsteam hat rund 700 Kilometer von der nächsten Forschungsstation, Neuseelands Scott Base, entfernt ein Camp auf dem Eis eingerichtet. Dort planen die Forschenden eine Bohrung, um Sedimente und Gesteine unterhalb von 500 Metern Eis zu gewinnen und die geologische Schichtabfolge im Bohrloch zu messen. Die Daten liefern entscheidende Hinweise darauf, wie empfindlich der westantarktische Eisschild in vergangenen Wärmeperioden reagierte. Dies ermöglicht wissensbasierte Rückschlüsse auf sein Abschmelzen und den Meeresspiegelanstieg in einer sich derzeit wieder erwärmenden Erde. Mehrere deutsche Institute sind beteiligt, ein deutscher Wissenschaftler startet ins Camp.
Der westantarktische Eisschild enthält genug Eis, um den globalen Meeresspiegel um vier bis fünf Meter ansteigen zu lassen, falls er vollständig abschmilzt. An einer Seite wird er vom Ross-Schelfeis gestützt – der größten schwimmenden Eismasse der Welt. Dieses wirkt wie ein Stützpfeiler und bremst den Abfluss von Gletschern und Eisströmen in Richtung Ozean. Mit der fortschreitenden Erwärmung gilt das Ross-Schelfeis als zunehmend verwundbar. Unklar ist jedoch, bei welcher globalen Temperaturerhöhung ein unaufhaltsames Abschmelzen des Schelfeises und damit der Verlust des westantarktischen Eisschildes ausgelöst wird.
Einen Temperatur-Kipppunkt im westantarktischen Eisschild anhand der Analyse von Sedimenten und Gesteinen nachzuweisen, ist das Ziel des Projekts SWAIS2C („Sensitivity of the West Antarctic Ice Sheet to 2°C“ – Empfindlichkeit des westantarktischen Eisschildes gegenüber 2 °C). Das Projekt ist eine Zusammenarbeit von Forschenden aus zehn Ländern – Neuseeland, USA, Deutschland, Australien, Italien, Japan, Spanien, Republik Korea, Niederlande und dem Vereinigten Königreich – mit mehr als 120 Wissenschaftlern. Aus Deutschland sind Forschende von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR, Hannover), vom Alfred-Wegener-Institut (AWI, Bremerhaven), vom LIAG-Institut für Angewandte Geophysik (LIAG, Hannover) und von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU, Kiel) beteiligt.
Ein On-Ice-Team aus 29 Projektteilnehmenden hat sich auf den dritten Versuch vorbereitet, einen 200 Meter langen Sedimentkern aus dem Untergrund unterhalb von 500 Metern Eis am Crary Ice Rise auf dem Ross-Schelfeis zu erbohren und im Bohrloch zu messen – Letzteres übernimmt Dr. Arne Ulfers vom LIAG. Der Crary Ice Rise ist ein sogenannter „Pinning-Point“ für das Ross-Schelfeis – ein Bereich, in dem der Meeresboden unter dem schwimmenden Schelfeis angehoben ist und die Basis des Eises berührt. Dadurch wird das Schelfeis gewissermaßen am Untergrund verankert und der Abfluss des Eises vom Kontinent weg gebremst.
„Durch die Sedimentkernanalysen und die Messungen im Bohrloch entsteht ein räumlich und zeitlich hochaufgelöstes Bild von den geologischen Ablagerungen und den damaligen Umweltbedingungen“, erklärt Dr. Arne Ulfers, Geowissenschaftler am LIAG-Institut für Angewandte Geophysik, der in diesem Jahr als einziger Forscher aus Deutschland in das Camp auf dem Eis reist. „Kurz gesagt: Wir forschen als interdisziplinäres Team in den Archiven der Vergangenheit, um besser zu verstehen, welche Zukunft den 680 Millionen Menschen an den tiefliegenden Küsten dieser Welt bevorstehen könnte.“
Die Sediment- und Gesteinsschichten bilden eine relative junge Vergangenheit ab, gleichzeitig werden aber auch bis zu 23 Millionen Jahre alte Schichten erwartet – und damit Hinweise auf Wärmeperioden der Erdgeschichte, in denen es 2 °C wärmer war als heute.
„Wir werden die Proben analysieren, um Umweltdaten darüber zu gewinnen, wie das Ross-Schelfeis in diesen früheren Warmzeiten reagiert hat. Dieses Archiv aus der Vergangenheit hilft uns, ein deutlich klareres Bild davon zu zeichnen, bei welcher Temperatur sich der westantarktische Eisschild zurückzieht und ein erheblicher Meeresspiegelanstieg ausgelöst wird“, erklärt Dr. Andreas Läufer, Geologe an der BGR und deutscher Koordinator des SWAIS2C-Wissenschaftsteams.
„Konkret können wir zukünftige Kipppunkte identifizieren, jenseits derer sich der Rückzug des Eisschildes nicht mehr aufhalten lässt“, ergänzt die Mikropaläontologin Prof. Dr. Denise Kulhanek, Professorin an der Universität Kiel und eine der leitenden Wissenschaftlerinnen im SWAIS2C-Projekt. „Das ist besonders wichtig, da sich unser Klima weiter erwärmt und das Schelfeis zunehmend Gefahr läuft, sich weiter landeinwärts zurückzuziehen.“
Für das AWI betont Sedimentologe Dr. Johann P. Klages die wissenschaftliche Bedeutung des Projekts: „Für uns ist es ein zentrales Ziel, zu verstehen, wie sich der westantarktische Eisschild in vergangenen warmen Klimaphasen mit hohen CO₂-Konzentrationen verhalten hat. SWAIS2C steht in direkter Verbindung zu unserer für Anfang 2027 geplanten Polarstern-Expedition „EvoWAIS“, bei der wir weitere Hinweise auf frühere Zusammenbrüche des Eisschildes untersuchen werden.“
Das Forschungsteam wird zudem in den Sedimenten nach winzigen Mikrofossilien mariner Algen suchen – Organismen, die Licht zum Überleben benötigen. Ihr Vorkommen deutet auf offene Ozeanbedingungen und damit auf einen Rückzug des Ross-Schelfeises hin.
Noch nie ist es gelungen, einen so tiefen Sedimentkern in so großer Entfernung von einer Station und so nahe am Zentrum des westantarktischen Eisschildes zu gewinnen. In den vergangenen zwei Antarktissommern hat SWAIS2C versucht, am Standort KIS3 – rund 260 Kilometer vom Crary Ice Rise entfernt – zu bohren. Beide Versuche konnten jedoch durch technische Probleme mit dem speziell entwickelten Bohrsystem nicht umgesetzt werden. „Was wir hier versuchen, ist echte Pionierarbeit – technisch, logistisch und wissenschaftlich hoch anspruchsvoll. In den ersten beiden Saisons haben wir große Fortschritte gemacht und das Bohrsystem so angepasst, dass wir in diesem Jahr bessere Chancen auf Erfolg haben“, sagt dazu Huw Horgan, SWAIS2C-Co-Chefwissenschaftler von der Victoria University of Wellington und der ETH Zürich.
Das Bohren in der „Deep Field“-Region, so weit von der nächsten Station entfernt, erfordert große Mengen an Ausrüstung – sowohl für den Bohrvorgang selbst als auch für den Betrieb des Camps, das komplett neu aufgebaut werden muss. Auf ihrer 1.100 Kilometer langen Route über das Ross-Schelfeis nutzte das Team ein bodendurchdringendes Radar, um gefährliche Gletscherspalten zu erkennen und zu umgehen. Zudem wird das Team mehrere Wochen auf dem Eis verbringen.
Das LIAG-Institut für Angewandte Geophysik (LIAG) ist eine unabhängige, außeruniversitäre Forschungseinrichtung mit Sitz in Hannover. Der Schwerpunkt der Forschung liegt in der Erkundung, Charakterisierung und Abbildung des oberflächennahen und nutzbaren Untergrundes sowie in der Entwicklung entsprechender Mess- und Auswerteverfahren. Dies ist Voraussetzung zur Beantwortung von gesellschaftlich relevanter Fragen in den Bereichen Grundwassersysteme, Geogefahren und Georeservoire als Energiequelle und Energiespeicher (im Fokus Geothermie und Wasserstoff). Die langjährige Spezialisierung auf oberflächennahe geophysikalische Anwendungen, die Geräte- und Dateninfrastruktur sowie die daraus resultierende Kompetenz in der Kombination vielfältiger geophysikalischer Methoden zeichnen das LIAG als eine in Deutschland einzigartige Forschungseinrichtung aus.
(Veröffentlicht: 12. Dezember 2025)