Gesellschaft

Zum Gedenktag für die Verfolgten des Nationalsozialismus

Anlässlich des Gedenktags für die Verfolgten des Nationalsozialismus am 27. Januar hielt Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay bei einer Gedenkveranstaltung am 28. Januar 2024 in der Synagoge der jüdischen Gemeinde Hannover eine vielbeachtete Rede.

 

Rede von Oberbürgermeister Belit Onay

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Anwesende,

Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay beteiligte sich zum Gedenktag an die Verfolgten des Nationalsozialimus auch an der Aktion #we remember.

seit 1996 ist in der Bundesrepublik Deutschland der 27. Januar der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Der Gedenktag erinnert an die Befreiung des nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Am 27. Januar 1945 erreichten Soldaten der Roten Armee das Vernichtungslager Auschwitz. Einer von ihnen, Jakow Wintschenko, berichtete:

"Es war kein Wachtraum, ein lebender Toter stand mir gegenüber. Hinter ihm waren im nebligen Dunkel Dutzende anderer Schattenwesen zu erahnen, lebende Skelette. […] Ich bekam Angst, mich anzustecken, und war versucht, wegzulaufen. Und ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ein Kamerad sagte mir, wir seien in Auschwitz. Es war uns klar, dass etwas Schreckliches über diesem Ort lag: Wir fragten uns, wozu all die Baracken, die Schornsteine und die Räume mit den Duschen gedient hatten, die einen seltsamen Geruch verströmten. Ich dachte an ein paar Tausend Tote – nicht an Zyklon B und das Ende der Menschlichkeit.“

„Das Ende der Menschlichkeit“ in Auschwitz – das war die geplante und industriell ausgeführte Ermordung von mehr als einer Million Menschen allein an diesem Ort, die meisten von ihnen jüdisch. Die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, von Hunderttausenden Sint*ezze und Rom*nja, von Hunderttausenden erkrankten oder beeinträchtigten Menschen.

„Das Ende der Menschlichkeit“ hatte seinen Anfang nicht in Auschwitz. Es hatte seinen Anfang an deutschen Wahlurnen, in den Rathäusern unserer Städte, in Schulen, an Arbeitsplätzen, auf den Straßen.

Bei den Reichstagswahlen im März 1933 erhielt die NSDAP 43,9 Prozent der Stimmen, bei einer Wahlbeteiligung von fast 90 Prozent. Die Nationalsozialist*innen erhielten mehr als doppelt so viele Stimmen wie die zweistärkste Partei, die SPD. Bürgerinnen und Bürger des Landes legitimierten damit den Anfang vom Ende der Menschlichkeit.

Der Anfang vom Ende der Menschlichkeit fand in Rathäusern in kleinen und großen Städten landauf, landab statt. Per Gesetz wurden Menschen rassisch unterschieden und über Namens- oder Begriffszusätze in ihren Ausweisen ausgrenzend markiert.

Der Anfang vom Ende der Menschlichkeit fand im Ausschluss aus der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ statt. Er wurde im Schulunterricht gelehrt. Menschen wurden durch angebliche „Wertigkeit“ voneinander unterschieden und getrennt. Zeitungen berichteten darüber. Ausschluss und Gewalt fanden vor den Augen der Gesellschaft statt.

Der Anfang vom Ende der Menschlichkeit fand im Herausdrängen jüdischer Menschen aus ihrer Arbeit, ihren Lehrgängen und ihrem Studium statt. Er fand statt, indem Mitarbeitende der jüdischen Gemeinden selbst dazu gezwungen wurden, Listen für die Deportation jüdischer Menschen aus ihrem Zuhause, ihrer Heimat in Deutschland anzufertigen.

Der Anfang vom Ende fand nicht im Geheimen statt.

Seit fast vier Monaten befinden sich jüdische Menschen in Deutschland und anderswo (schon wieder) in einer besonderen Situation der Angst. Terroristen der Hamas griffen Orte in Israel an. Sie ermordeten gezielt mehr als 1.200 Babys, Kinder, Frauen und Männer in ihren Wohnungen, auf der Straße, beim Feiern, und entführten mehr als 250 Personen – weil sie jüdisch waren. Seitdem befindet sich das Land im Krieg mit der Hamas. Viele Jüdinnen und Juden in Deutschland haben Angehörige verloren oder bangen um Entführte. Seitdem gibt es auch hier vermehrt antisemitische Angriffe. Menschen haben auch hier Angst, in ihre Synagogen zu gehen. Die Zeitungen „Jüdische Allgemeine“ und „Jüdisches Berlin“ werden seit Anfang letzten Novembers in neutralen Umschlägen verschickt, um ihre Empfänger*innen zu schützen.

Vor wenigen Wochen traf sich eine Gruppe politisch aktiver Menschen aus rechten Gruppierungen heimlich in Potsdam. Darunter bekannte Rechtsextremisten und Vertreter der AfD. Sie sprachen über einen rassistischen „Masterplan“ zur Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland. Menschen, die hier ihr Zuhause haben. Menschen, die Teil unserer vielfältigen Gesellschaft sind. Derartig unmenschliches Handeln hat es in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus schon einmal gegeben – die Folgen davon kulminierten in Auschwitz als Symbol für alle Lager und Orte des Grauens, des Tötens und der Vernichtung von Menschen. Deswegen sagen wir hier und überall deutlich und ganz unmissverständlich: NIE WIEDER!

In den letzten zwei Wochen sind hunderttausende Menschen in Deutschland auf ihre Straßen gegangen, vor ihre Rathäuser und auf symbolisch wichtige Plätze. Stand Montag waren es schon über 900.000. Wir protestierten gegen rechte Ideologien. Gegen den Ausschluss von Menschen aus der Gesellschaft. Gegen Hass und Rassismus.

Damit ein Ende der Menschlichkeit nicht wieder seinen Anfang unter uns findet.

Wenn wir das wollen, wenn wir ein offenes, friedliches, vielfältiges und sicheres Miteinander erhalten wollen, müssen wir alle etwas dafür tun. Wir müssen aber auch mehr tun als demonstrieren. Wir müssen uns engagieren. Gegen rassistische und hasserfüllte Aussagen Widerrede leisten. An Wahlen teilnehmen! In unseren Familien, Vereinen, in der Schule und am Arbeitsplatz für einander und die Werte einer freien, offenen und demokratischen Gesellschaft einstehen.

Es liegt an uns!

Rede von der Veranstaltung zum "Gedenken an die Opfer des Holocaust" in der Synagoge der jüdischen Gemeinde Hannover von Oberbürgermeister Belit Onay, 28. Januar 2024.