Aktionskunst der Wilhelm-Raabe-Schule am Holocaust-Mahnmal
Am 2. Oktober 2019 erzählten Schülerinnen und Schüler der Wilhelm-Raabe-Schule am Holocaust-Mahnmal am Opernplatz die Lebensgeschichten von jüdischen Ermordeten, deren Namen auf dem Holocaust-Mahnmal eingraviert sind, und sprachen Passanten auf das Mahnmal und seine Bedeutung an. Die Aktion bildete den öffentlichen Abschluss des Projekts „Gegen innere und äußere Mauern – Aktionskunst in der Innenstadt“, das unter der Leitung von Studienrat Timo Egemann im Rahmen einer dreitägigen Projektwoche der Wilhelm-Raabe-Schule erarbeitet wurde.
In Zusammenarbeit mit der Städtischen Erinnerungskultur versuchte das Projekt, die Ziele eines Kunstprojektes mit dem würdevollen Umgang mit dem zentralen Holocaust-Mahnmal in Hannover zu verbinden. Die Freiheit der Kunst kann und soll provokative Aktionen hervorbringen. Doch die Erinnerung an die Barbarei des Nationalsozialismus muss immer mit der (symbolischen) Wiederherstellung der Würde der Verfolgten und Ermordeten einhergehen. In diesem Spannungsverhältnis bewegte sich das Projekts „Gegen innere und äußere Mauern – Aktionskunst in der Innenstadt“.
Die Gestaltung des Mahnmals, angelehnt an die Grundform der Grabpyramide durch den Künstler Michelangelo Pistoletto, darauf die Namen der 1935 Ermordeten sowie der Standort im belebten Zentrum der Stadt sind für alle Betrachter grundsätzlich eine Herausforderung. Die Kunst darf aber den Umgang mit dem Holocaust-Mahnmal nicht scheuen. Erst der künstlerische Umgang mit den Dingen in der Welt bringt, gerade für Schülerinnen und Schüler, vielfältig neue und bereichernde Zugänge und Sinneswahrnehmungen hervor. Ein innovativer Ansatz des Projektes „Gegen innere und äußere Mauern“ bestand darin, sich den eingravierten Namen der Ermordeten mit sinnlicher (taktiler) Wahrnehmung anzunähern. Berühren und Nachzeichnen eines Namens mit den Fingern auf den steinernen Namenstafeln unterstützen das Verständnis für das Schicksal, das beschrieben ist; es hilft verstehen, wie das Buchstabieren eines Wortes zum Verstehen des Ganzen und seiner Bedeutung führt.
In der Praxis starteten die Schülerinnen und Schülern angeleitet von der Städtischen Erinnerungskultur mit einer kurzen Einführung am Holocaust-Mahnmal. Anschließend beschäftigten sich die Teilnehmer*innen vor Ort mit 16 ausgewählten Opfern im Alter zwischen neun Monaten und 24 Jahren und den Angaben, die zu diesen Personen auf dem Mahnmal eingraviert sind. Hieraus ergaben sich unterschiedliche Erfahrungen und Erkenntnise über die einzelnen Schicksale, dieim weiteren Verlauf des Schulprojekts weiter vertieft wurden. Als Hilfsmittel zu ihren Biographien verwendeten diie Schülerinnen und Schüler u.a. die Ausstellungskataloge "Abgeschoben in den Tod" und "Rettende Kindertransporte aus Hannover".
Die Präsentation erfolgte zum Abschluss am dritten Projekttag wiederum am Holocaust-Mahnmal. Eine Gruppe hatte sich beispielsweise eine Form überlegt, um die Namen auf dem Mahnmal den Passanten vor Ort plastischer vermitteln zu können. Sie schrieben die Familiengeschichten "ihrer" Opfer in Ich-Form um. Als Erzähler ließen sie dann über eine Lautsprecheranlage am Holocaust-mahnmal einen ermordeten Opa und einen Familienvater sprechen. Der ermordete Moritz Blankenberg berichtete beispielsweise über seine Tochter und seinen Schwiegersohn, sowie seine Enkel, darunter die zweijährige Tana Arensberg, die alle ermordet wurden. Die Schülerin Julia alias Moritz Blankenberg sagte zum Schluss: „Wir wurden in Riga erschossen, angeblich weil wir zu alt waren und nicht mehr voll arbeitsfähig. Nun sind wir nur noch Namen auf diesem Mahnmal.“ Mit den Ich-Erzählungen der Schülerinnen und Schüler wurde das Mahnmal für die Ermordeten plötzlich für Passanten „lebendig“.