Provenienzforschung

Suche nach NS-Raubgut im historischen Bestand der StaBi

Die Frage nach der Provenienz (Herkunft) von Büchern im historischen Bestand der Stadtbibliothek steht im Mittelpunkt eines aktuellen Forschungsprojektes.

Ziel der 2017 begonnenen Arbeit ist es, Bücher ausfindig zu machen, die in der Zeit des Nationalsozialismus ihren rechtmäßigen Eigentümer*innen geraubt wurden oder die diese unter dem Druck der NS-Verfolgung verkaufen oder abgeben mussten. Die gestohlenen Bücher sollen an ihre rechtmäßigen Eigentümer*innen zurückgegeben werden.

Öffentliche Aufmerksamkeit erlangt das Thema NS-Raubgut meist mit spektakulären Fällen verfolgungsbedingt entzogener Kunstwerke. Genau wie Kunstwerke wurden aber auch Bücher und Bibliotheken von den Nationalsozialisten massenhaft und systematisch geraubt.

Provenienzforschung als Erinnerungsarbeit

Anders als bei Kunstwerken geht es bei Büchern in der Regel nicht um große materielle Werte. Umso wichtiger ist hier die symbolische Bedeutung der Gegenstände als Träger von Erinnerungen: Die geraubten Bücher sind oft die letzten materiellen Spuren ihrer früheren Eigentümer*innen, die vom NS-Regime verfolgt, zur Flucht gezwungen oder ermordet wurden.

Somit leistet die Provenienzforschung, wenn sie anhand von herkunftsanzeigenden Spuren wie Autogrammen, Exlibris (Etiketten) oder Stempeln in Büchern verfolgte Personen identifizieren, durch weitere Recherchen Einzelheiten ihrer Biografie ermitteln und schließlich die Rückgabe der Bücher ermöglichen kann, einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungsarbeit.

Wie sich Provenienzforschung dabei auch mit historischer Bildungsarbeit verbinden kann, zeigt der Buchfund Erna Koopmann.

Welche Bücher sind verdächtig?

Als potentiell NS-Raubgut-verdächtig und daher prüfbedürftig ist grundsätzlich jedes Buch anzusehen, das vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 9. Mai 1945 erschienen ist und das nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 z.B. durch Kauf oder als Geschenk in die Bibliothek gelangt ist.

Wie viele Exemplare dies im über 1 Million Medieneinheiten umfassenden Bestand der Stadtbibliothek betrifft, lässt sich nicht genau beziffern. Vorsichtig geschätzt ist jedoch von bis zu 100.000 prüfbedürftigen Büchern auszugehen.

Wie wird bei der Suche nach NS-Raubgut vorgegangen?

1. Ausgangspunkt der Suche: die Zugangsbücher

Die Zugangsbücher der Stadtbibliothek, in denen neben dem Zeitpunkt der Erwerbung auch die Erwerbungsart und die Lieferanten der einzelnen Bücher verzeichnet sind, geben bei der Suche nach NS-Raubgut wichtige Anhaltspunkte.

Blick in das Zugangsbuch von 1942: Bücher aus der Sammlung des NS-verfolgten Unternehmerehepaars Gustav Rüdenberg (1868 – ca. 1942) und Elsbeth Therese Rüdenberg, geb. Salmony (1886 – ca. 1942) verbergen sich hinter der Angabe "Oberfinanzpräsident"

 
2. Spurensuche im Buch

Ob ein Buch tatsächlich NS-Raubgut ist, lässt sich anhand der Zugangsbücher allein meist nicht genau feststellen. Daher muss jedes verdächtige Buch einzeln aus dem Magazin geholt und auf herkunftsanzeigende Spuren überprüft werden. Dies können z.B. handschriftliche Einträge, Stempel, Exlibris oder andere Etiketten sein, die Hinweise auf frühere Eigentümer*innen geben. Findet sich kein solcher Hinweis, kann der NS-Raubgut-Verdacht nicht weiter verifiziert werden und die Recherche muss hier enden.

Herkunftsanzeigende Spuren: Exlibris H.[?] Braunsberg; Stempel Johannis-Loge zum Neuen Tempel Braunschweig; Stempel Friedrich Bartens (Eimsen); Exlibris Dr. Johanna Maass

  
3. Personenrecherche und Erb*innensuche

Ist ein aussagekräftiger herkunftsanzeigender Hinweis in einem Buch vorhanden, kann die eigentliche Provenienzrecherche beginnen:

Wer war der/die frühere Eigentümer*in des Buches? Wurde die Person vom NS-Regime verfolgt? Hat sie das Buch freiwillig abgegeben oder musste sie es unter dem Druck der NS-Verfolgung verkaufen oder verschenken? Auf welchem Weg ist ihr Buch in die Stadtbibliothek gelangt? Können der/die rechtmäßige Eigentümer*in oder ihre Nachfahr*innen ausfindig gemacht werden?

Antworten auf diese Fragen können unterschiedlichste Quellen liefern, wie z.B. Archivakten, Adressbücher, Auktionskataloge oder (Online-)Datenbanken.

Eine Übersicht wichtiger Recherche-Tools findet sich hier.

Der Stand der Dinge?

Bislang konnten im Rahmen der Untersuchungen rund 12.400 Bücher überprüft werden. Davon sind rund 21 Prozent auf Grund der Lieferantenangaben in den Zugangsbüchern und/oder herkunftsanzeigender Spuren wie z.B. Autogrammen, Stempeln oder Exlibris als NS-Raubgut-verdächtig einzustufen. Von den verdächtigen Büchern tragen etwa 2.170 Provenienzhinweise, die konkrete Rückschlüsse auf frühere Besitzer*innen zulassen. In 69 Fällen konnte der Raubgut-Verdacht bereits eindeutig bestätigt werden. In momentan 1.900 Fällen sind zur Provenienzklärung umfangreiche weitere Recherchen erforderlich. In 19 der eindeutigen NS-Raubgut-Fälle konnten die rechtmäßigen früheren Eigentümer*innen bzw. deren Erb*innen bereits erfolgreich ermittelt und die Bücher an diese zurückgegeben werden.

Wie geht es weiter?

Die Fortsetzung der Provenienzforschung in der Stadtbibliothek Hannover ist dank der Förderung von der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste bis Februar 2025 gesichert.

Von August 2017 bis Oktober 2020 wurden in einem ersten Projekt Bestände untersucht, die in der frühen Nachkriegszeit (1945 bis 1955) in die Stadtbibliothek gelangt sind. (Weitere Informationen hier).

In einem im Oktober 2020 gestarteten Folgeprojekt werden momentan die Zugänge aus der NS-Zeit selbst (1933 bis 1945) auf verfolgungsbedingt entzogene Werke hin geprüft. (Weitere Informationen hier).

 
Ein Werkstattbericht findet sich hier.

 

Weitere Informationen zur Provenienzforschung an der Stadtbibliothek finden sich auf der Projektwebsite.