Politische Bildung

"Das habe ich nicht gewusst!" Schüler*innen reagieren betroffen auf Nazi-Verbrechen in ihrer Nachbarschaft

NS-Zeit-Hanover.de: Ehrenamtliche Website gegen „gedankenlosen“ Antisemitismus unter Jugendlichen

Screenshot des Infoportals NS-Zeit-Hannover.de

Fragt man Jugendliche in Hannover nach der NS-Zeit, winken viele gelangweilt ab. Auschwitz  und der Holocaust sind für die meisten gedanklich weit entfernt. Laut einer CNN-Umfrage bei 18- bis 34jährigen gaben rund 40 Prozent an, "wenig" oder "gar nichts" über den Holocaust zu wissen (Zeit online, 28.11.2018). Zeitzeugen, die authentisch über die Verbrechen der Nazizeit berichten können, gibt es kaum noch. Der „gedankenlose“ Antisemitismus unter Jugendlichen ist vielfach die Folge von Unwissenheit und Gleichgültigkeit. Umso überraschter reagieren die meisten, wenn sie erfahren: Spuren von Nazi-Verbrechen gibt es überall in Hannover – oft in unmittelbarer Nähe zur Wohnung, zur Schule, zum Sportplatz.

1936 Militäraufmarsch mit Hakenkreuzfahnen in der Karmarschstraße kurz vor der Osterstraße. Rechts im oberen Bild: das Konfektionsgeschäft der Gebr. Hirschfeld, das am 10. November 1938 von den Nazis demoliert und geplündert wurde.

Beispiele gibt es genug: Kaum jemand weiß, dass es in Hannover-Mühlenberg ein Auschwitz-Außenlager und sechs weitere Konzentrationslager im Stadtgebiet  gab, in denen die SS Tausende von Menschen zu Tode schuften ließ. Welchem Schüler, welcher Schülerin der Käthe-Kollwitz-Schule ist bewusst, dass sich auf dem heutigen Schulgelände an der Podbi ein Zwangsarbeiterlager der Keksfabrik Bahlsen befand, deren überwiegend weiblichen Gefangene schlecht ernährt, misshandelt und zu  sechs Arbeitstagen mit 12-Stunden-Schichten gezwungen wurden? Und welcher Besucher des Ballhof-Theaters denkt daran, dass die Nazis die Fachwerkgebäude links und rechts am ehemaligen Ballhof und den Ballhof selbst für hannoversche Hitler-Jungen und Mitglieder des Bundes Deutscher Mädel errichtet, beziehungsweise umgebaut hatten – als Heime für die Erziehung zum Krieg? „Erinnerung darf nicht zum leeren Ritual werden. Wir müssen die 14 – 25jährigen auf die Verbrechen ‚vor der Haustür‘ mit Hilfe moderner Medien über das Geschehene informieren, damit sich die Geschichte von 1933–1945 niemals wiederholt“, sagt Dietmar Geyer, Initiator der ehrenamtlichen Initiative „NS-Zeit in Hannover.“

Nach mehr als einem Jahr Vorarbeit, Sichtung von historischen Dokumenten, Gesprächen über relevante Forschungsergebnisse mit hannoverschen Historikern und nicht zuletzt nach der Lektüre zahlloser Bücher der Jüdischen Bibliothek Hannover ist die Website „NS-Zeit-Hannover. Aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen. Faktencheck für Schülerinnen und Schüler“ entstanden und jetzt im Netz zu sehen.

Schüler*innen finden hier Daten und Fakten über die NS-Zeit in Hannover gebündelt und übersichtlich zusammengetragen. Das erleichtert Referate oder Facharbeiten.

NS-Zeit in Hannover informiert über

  • die Besetzung des Gewerkschaftshauses an der Goseriede und des Rathauses durch die Nazis
  • die Kulturbarbarei der Bücherverbrennung am ehemaligen Bismarckturm – heute Maschsee
  • die Pogromnacht und den Brand der Synagoge an der Rothen Reihe
  • die Geheimpolizei „Gestapo“, die im Keller der Stadtbücherei an der Hildesheimer Straße Häftlinge folterte
  • den Hass auf Juden am Beispiel des Judenhauses an der Strangriede
  • die Verfolgung der Sinti am Beispiel des Boxers Johann Trollmann
  • das Leiden der Zwangsarbeiter in Ahlem
  • die Konzentrationslager in Ahlem, Brink, Limmer, Misburg, Mühlenberg, Stöcken
  • über die Deportation von 1001 Männern, Frauen und Kindern vom Fischerbahnhof Linden in den Tod
  • den Massenmord auf dem Friedhof Seelhorst in den letzten Kriegstagen
  • über die hannoverschen Täter, von denen die meisten ungeschoren davon kamen
  • verfolgte prominente Hannoveraner*innen

Lehrer*innen in Hannover stellen im Unterricht diese Website gern wegen ihres lokalen Bezugs vor. Insbesondere kommt der pädagogische Ansatz „Wissen + Verstehen = Anwenden bei den Pädagog*innen gut an. Ganz praktisch: besser Bescheidwissen hilft jeder Schüler*in, besser gegen Vorurteile und Antisemitismus zu argumentieren.

Die Gebrüder Hirschfeld mussten ihr Ladengeschäft Karmarschsstraße 9-11 1939 "arisieren", das bedeutete: Sie wurden gezwungen, ihr Geschäft für eine lächerlich geringe Summe an einen "Arier" zu übergeben.

Das wissen auch wichtige Institutionen unserer Stadt zu schätzen. Kurze Zeit nachdem Geyer das Portal online gestellt hatte, erkannten politische Parteien, die Verwaltung der Landeshauptstadt Hannover, Mitglieder des Rates, Gedenkstätten, Kirchen und Vereine ihren Informationswert und verweisen von ihren Websites auf NS-Zeit-Hannover.de.

Die Jüdische Bibliothek Hannover unterstützt „NS-Zeit-Hannover.de“ und bietet Schüler*innen und Studierenden Beratung an, wenn zum Thema Nazi-Zeit detailliertes Material benötigt wird und darüber hinaus, wenn junge Menschen mehr unter anderem über die jüdische Geschichte und über jüdisches Leben in Niedersachsen lesen möchten.

Als nächstes Projekt hat das Redaktionsteam ein weitgehend unerforschtes Feld der NS-Historie ausgewählt: Es gibt keine zusammenfassende Dokumentation über die politisch missbrauchte Hitler-Jugend in Hannover. Diese und weitere Lücken und andere will NS-Zeit-Hannover.de in Kürze schließen.

Dazu werden private Fotos, Briefe, Zeitungsausschnitte  zu den Themen Hitler-Jugend und Schule in Hannover in den Jahren 1933 bis 1945 gesucht. Kontakt: NS-Zeit-Hannover@web.de